Das Anliegen und der Auftrag
Wer kennt es nicht, das Märchen von dem armen Aschenputtel, das am Ende als die Auserwählte mit dem Prinzen ins Schloss reitet? Weit davon entfernt, eine einfache Love Story zu sein, offenbart auch dieses Märchen mit einer anderen Lesart neue Perspektiven für das Berufsleben. Denn wir finden hier den Ausbruch aus einem undankbaren Job hin zu einem neuen Platz im Leben.
So sieht das Setting aus:
Es war einmal ein Mädchen, dessen Mutter krank wurde und starb. Bald danach nahm sich der Vater eine andere Frau, die zwei eigene Töchter mit ins Haus brachte. Diese behandelten es schlecht, gaben ihm die niedersten Arbeiten und ließen es in der Asche am Herd schlafen. Weil es deswegen immer schmutzig war, nannten sie es nur noch das Aschenputtel.…
Es kam die Zeit, da der König einen großen dreitägigen Ball zu Ehren seines Sohnes veranstaltete, um ihn zu vermählen. Zu diesem Fest waren alle jungen Frauen des Landes eingeladen, aber die Stiefmutter verbot Aschenputtel, mitzukommen.
Aschenputtel hörte aber nicht auf zu bitten. Da nahm die Stiefmutter eine Schüssel voll Linsen, schütteten die Linsen in die Asche und sagte zu ihr: „Wenn du die Linsen in zwei Stunden aus der Asche gelesen hast, dann darfst du mitkommen.“
Aschenputtel rief die Hilfe der Tauben herbei, die über ihrer Mutter Grab wachten; diese kamen mit allen Vögeln des Gartens und pickten für Aschenputtel die Linsen aus der Asche. Sie freute sich über die gelungene Bewältigung der Aufgabe, brachte die Schüssel der Stiefmutter und glaubte, nun dürfe sie mit auf das Fest gehen. Wir wissen jedoch schon, wie das ausgeht:
Aber die Stiefmutter sagte wiederum nein, und als Aschenputtel wiederum nicht aufhörte zu bitten, sagte die Stiefmutter: “Wenn du mir zwei Schüsseln von Linsen in einer Stunde aus der Asche gelesen hast, darfst du mitkommen.” Und wiederum rief Aschenputtel die Vögel des Gartens zu Hilfe, um die Aufgabe zu erledigen. Aber auch dieses Mal, als Aschenputtel freudig mit den beiden Schüsseln zur Stiefmutter kam, wurde ihre Bitte endgültig abgelehnt, und die Stiefmutter eilte mit ihren stolzen Töchtern fort zum Ball.
Das gezinkte Spiel
Vielleicht kennen Sie diese Situation: Sie kommen mit einer Frage oder einem Anliegen in ein Gespräch, und statt einer ernsthaften Antwort wird Ihnen eine Aufgabe oder ein Projekt hingeworfen, das realistisch kaum in der angedachten Zeit zu bewältigen ist oder das unverhältnismäßig viel Arbeit ohne erkennbaren Mehrwert produziert. Solche Aufträge werden gern als Ablenkungsmanöver erteilt, um z.B. die Bitte um eine Gehaltserhöhung oder Beförderung zu vertagen, oder einfach auch um ein weiterführendes Gespräch abzuwenden.
Das sind Aschenputtel-Aufträge: die Linsen werden in die Asche geschüttet wie eine Probe, in der zu beweisen ist, was man leisten kann; am Ende jedoch wird der versprochene Lohn nicht gewährt. Manchmal erkennt man einen Aschenputtel-Auftrag auch erst, wenn sich niemand für das Ergebnis der Arbeit interessiert. Auf einmal wird klar: es geht eigentlich darum, Ambitionen zunichte zu machen.
Der Hintergrund ist ein Spiel mit gezinkten Karten: Aschenputtel kann nicht gewinnen, wenn es sich an die Regeln hält, denn diese Regeln sind von vornherein zu ihrem Nachteil aufgestellt. Zweimal unternimmt sie den Anlauf, das Spiel mitzuspielen. Aber selbst indem sie das scheinbar Unmögliche möglich macht und beim zweiten Mal sogar die doppelte Leistung abliefert, bleibt ihr das Ziel verwehrt, indem die Stiefmutter ihr Versprechen nicht einhält. Dann erst wird deutlich: die Idee der Aufgabe war ja gerade, dass sie möglichst nicht erfüllt werden sollte um damit die Diskussion zu beenden; allein deswegen gab es noch eine zweite Runde mit erhöhtem Anspruch. Aschenputtel-Aufträge bringen einem nie den erhofften Lohn oder Erfolg, denn sie wurden von vornherein erteilt in der Absicht, dass die Aufgabe nicht erfüllt werden kann oder soll, weil der Lohn nicht gezahlt werden will.
Verborgene Ressourcen
Aber damit ist das Märchen noch lange nicht zu Ende. Denn Aschenputtel lernt schnell und ist nicht annähernd so hilflos, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
“Als nun niemand mehr daheim war, ging Aschenputtel zu seiner Mutter Grab unter dem Haselbaum und rief: ‘Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich.’ Da warf ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter und mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln. In aller Eile zog Aschenputtel das Kleid an und ging zum Fest.”
Sie findet also ihren ganz eigenen Weg – und erst, nachdem alle gegangen sind und sie unbeobachtet ist. Da sie weiß, was ihr fehlt um zum Ball zu gehen – nämlich Kleider und Schuhe – bittet sie direkt am Grab der Mutter darum und bekommt genau was sie braucht um ihr Ziel zu erreichen. Dies ist kein Zufall, sondern das Ergebnis konsequenter Aktivität im Verborgenen, denn am Anfang des Märchens erfahren wir:
Aschenputtel ging jeden Tag zum Grab ihrer Mutter, weinte und goss mit ihren Tränen den Haselstrauch, der mit der Zeit zu einem Bäumchen heranwuchs.
Aschenputtel pflegt und hütet ihre ganz privaten Schätze: das Grab der Mutter, das Haselbäumchen, ihre Freundschaft zu den Vögeln und – vielleicht am allerwichtigsten – ihre Integrität. Anstatt mit Intrigen gegen die Stiefmutter und die Stiefschwestern vorzugehen, stärkt sie ihr eigenen Ressourcen, auf die sie im entscheidenden Augenblick zurückgreifen kann.
In den Arbeitskontext übersetzt bedeutet das: investieren Sie Zeit in die Entwicklung Ihrer eigenen Potenziale. Diese bedürfen der täglichen Pflege im Verborgenen, damit sie im rechten Augenblick zur Entfaltung kommen können.
Regeln brechen
Denn eine weitere wichtige Lehre dieses Märchenausschnitts besagt: wenn das Spiel gezinkt ist, kann man sein Ziel nur durch einen Regelbruch erreichen. Aschenputtel akzeptiert das Verbot der Stiefmutter nicht, sondern schlägt sie quasi mit ihren eigenen Argumenten: wenn es am fehlenden Kleid liegt, dass sie nicht zum Ball darf, dann besorgt sie sich dieses auf ihre eigene Art. Und zwar heimlich, erst wenn alle gegangen sind und niemand mehr sie daran hindern kann, auf dem Fest zu erscheinen.
Wer hätte das gedacht – Aschenputtel beweist Mut und hat eine Strategie. Nach den vielen Jahren in der Asche am Herd sieht sie hier die Chance, auf heimlichen Wegen aus ihrer unsäglichen Situation auszubrechen. Und tatsächlich ist das Geheimnis, das sie umweht, neben ihrer Schönheit ein Trumpf auf dem Ball und maßgeblicher Erfolgsfaktor.
Deswegen lassen sich die Aschenputtel-Aufträge im Leben manchmal nicht überspringen. Erst durch sie kann der Mut und die Kreativität wachsen, etwas anderes und möglicherweise Unerhörtes auszuprobieren. Erst durch diese Situation entsteht die besondere Aura, auf die andere aufmerksam werden.
Mit anderen Worten: auch Aschenputtelaufträge können sich langfristig lohnen, wenn man sie mit der richtigen Strategie im Hinterkopf bearbeitet. Das Ergebnis könnte Ihre kühnsten Erwartungen übertreffen und Ihnen einen ganz neuen Platz im Leben bescheren.
Fotos: Randy Fath auf Unsplash