Schneewittchen ist eine Kulturikone, so Wikipedia, und wir erkennen das Märchen sogleich an dem wohl berühmtesten Zitat der Gebrüder Grimm im Titel dieses Beitrags. Dem Spiegel kommt in der Geschichte eine tragende Rolle zu: er fungiert als Statusmelder und somit Auslöser für die gesamte Handlungskette des Märchens. Dabei spielt die Art der Befragung des Spiegels eine genauso wichtige Rolle wie die Antwort … vielleicht ahnen wir schon, wohin uns diese Metapher führen kann!
Die Heldinnen und Helden des Märchens sind Schneewittchen, die Königin und die sieben Zwerge, vielleicht auch noch der Prinz. Im Zentrum steht jedoch die Figur der bösen Königin, die aus Neid und Eifersucht das schöne Schneewittchen umzubringen trachtet, denn ihr Handeln bestimmt die Geschichte. Sie ist eine Berühmtheit unter den Protagonistinnen der Märchenwelt und wir wollen hier einmal jenseits der Tiefenpsychologie auf die Dynamik schauen, in der sie sich bewegt. Wir werden sehen, dass sich dort einiges an Stoff für die Arbeitswelt finden lässt.
Das Märchen beginnt damit, dass Schneewittchens Mutter sich ein Kind wünscht, es bekommt und kurz darauf stirbt:
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie: „Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?“, so antwortete der Spiegel: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“ Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte.
Schönheit als Statussymbol
Schauen wir uns die Königin genauer an. Sie hat von außen in das Königshaus eingeheiratet und Status durch ihre Verbindung zum König. Das Märchen erzählt uns nichts über die Motive des Königs, gerade diese Frau zu heiraten. Es wäre allerdings nicht erstaunlich und der archetypischen Logik gemäß, dass er sie wegen ihrer Schönheit gewählt hat, die sie offensichtlich mit Stolz zur Schau trägt.
Schönheit ist also eine Währung, ein Symbol und ein Garant für Status, sowohl für den König als auch die Königin. Wenn nun Stolz und Übermut hinzukommen, wird es gefährlich, wie wir schon wissen:
Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön, wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“, so antwortete er:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“
Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid.
Von nun an trachtet die Königin Schneewittchen nach dem Leben. Als erstes beauftragt sie einen Jäger, der das Mädchen in den Wald nehmen und dort erschießen soll. Der Jäger ist jedoch barmherzig und lässt Schneewittchen laufen, bis sie bei den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen ankommt und dort ein neues Zuhause findet.
Die Königin aber befragt wieder ihren Spiegel, der ihr ungeschönt die Wahrheit mitteilt:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“
Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach … Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe.
Erst nach dem dritten Versuch, Schneewittchen durch List und Heimtücke zu töten, bestätigt ihr der Spiegel: „Frau Königin, ihr seid die Schönste im Land“.
Endlich ist sie wieder die Erste, wenn auch nur für kurze Zeit, wie wir wissen. Mehr als der Ausgang des Märchens (natürlich eine glückliche Hochzeit zwischen Schneewittchen und einem schönen Prinzen bei gleichzeitiger Bestrafung der Königin) soll uns hier jedoch interessieren, was diese Märchenfigur uns über das Offensichtliche hinaus erzählen kann.
Angst vor Statusverlust
Die Königin kommt als Außenseiterin an den Hof und identifiziert sich mit ihrer Schönheit als entscheidend für ihren Status. Im Märchen ist Schönheit immer ein Kriterium für Besonderheit und für die Erwählung in eine hervorgehobenen Position – auch der rettende Prinz war von Schneewittchen im Sarg wegen ihrer Schönheit verzaubert. Daher ist die Befürchtung von Statusverlust durch abnehmende Schönheit nicht völlig abwegig.
Tatsächlich sagt uns das Märchen immer wieder, dass die Königin nicht nur neidisch sondern auch verängstigt war: jedes Mal, wenn der Spiegel ihr mitteilte, dass „Schneewittchen tausendmal schöner ist“, erschrickt sie. Die Furcht ist die erste Reaktion – erst daraus erwachsen Neid und Eifersucht. Und wovor hat sie Angst? Genau – vor dem Verlust ihrer Position und ihres damit verbundenen Status.
Wachstum und Entwicklung behindern
Statusverlust ist eine schmerzhafte Erfahrung, wenn man nicht selbst freiwillig seine Position aufgibt. Denn mit dem Status erhalten wir neben äußerlichen Statussymbolen eine ganze Reihe indirekter Vorteile: Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Zustimmung, um nur einige zu nennen. Und immer besteht die Gefahr, dass wir uns an die Annehmlichkeiten unseres hervorgehobenen Status gewöhnen und sie als selbstverständlich hinnehmen. Gerade in Führungspositionen vergessen wir allzu leicht, dass die Statussymbole und die damit verbundene Aufmerksamkeit mit unserer äußeren Rolle verbunden ist und nicht mit unserer Person.
Die Angst vor Statusverlust treibt die wildesten Blüten und ist sehr oft der Taktgeber hinter der Politik in Organisationen insbesondere auf Top-Führungsebene. Und diejenigen, die uns unseren Status in irgendeiner Weise streitig machen könnten, werden oft genug gezielt behindert, ausgebremst oder mundtot gemacht. Die Schäden in Unternehmen sind immens: neben den Verletzungen auf der persönlichen Ebene verursacht die gezielte Deckelung von Potenzialen Frustrationen und behindert die Weiterentwicklung der Organisation bis hin zu wirtschaftlichen Schäden.
Die Suche nach Bestätigung
Aus der Angst von Statusverlust folgt naturgemäß ein Bedürfnis, den Status regelmäßig bestätigt zu bekommen um sich abzusichern. Hier kommt der Spiegel ins Spiel, dessen Auftrag genau diese Anerkennung ist. Es geht weniger darum, ob die Königin sich selbst schön findet und selbstverliebt vor dem Spiegel steht, sondern sie will den Nachweis durch die Aussage des objektiven Spiegels – ein Spiegel, von dem sie weiß, dass er keine Unwahrheit sagt.
Der Spiegel ist eine mächtige Metapher in der Führungsarbeit. Denn es wird immer schwieriger ehrliches Feedback zu bekommen, je höher man in der Hierarchie steht – sei es als Vorstand oder als Unternehmensgründerin, sei es als Quereinsteiger oder als Eigengewächs in einem Unternehmen.
Feedback einholen
Das Thema des richtigen Spiegels und der richtigen Fragen ist überlebenswichtig für die oberste oder innerste Führungsebene jedes Unternehmens. Wenn wir in Führungspositionen kommen und uns darin weiterentwickeln wollen, sind wir gut beraten uns mit den Spiegeln um uns herum zu beschäftigen.
Haben wir tatsächlich einen Spiegel der uns ungeschönt die Wahrheit sagt? Und stellen wir die richtigen Fragen? Haben wir den Mut, uns unbequemen Wahrheiten zu stellen ohne uns in Machtspielen und Intrigen zu verstricken? Vielleicht sollten wir auch verschiedene Spiegel ausprobieren um einer Art von Wahrheit näher zu kommen. Zum Beispiel eine Mischung aus persönlichem Feedback, Mitarbeiterbefragungen oder regelmäßige Retrospektiven auf die Führungsarbeit – das alles sind hilfreiche Wege für eine realistische Spiegelung aus der Organisation.
Umgang mit talentiertem Nachwuchs
Das Problem im Märchen beginnt erst damit, dass Schneewittchen heranwächst und mit jedem Tag schöner wird, bis sie die Königin an Schönheit übertrifft. Auch das ist keine ungewöhnliche Situation: wir übernehmen ein Team, bauen es auf oder entwickeln es weiter und müssen eines schönen Tages feststellen, dass eine Mitarbeiterin uns den Rang abläuft und womöglich sogar den Posten streitig machen könnte. Schaffen wir es, unsere Rolle neu zu definieren und talentiertem Nachwuchs den gebührenden Platz einzuräumen? Oder versuchen wir uns zu behaupten indem wir Nachwuchs deckeln und nicht zum Zug kommen lassen?
Auch in diesen Situation kann ein Spiegel hilfreich sein, nur von einer anderen Sorte. Wenn wir uns der Wahrheit des Älterwerdens stellen, zeigt uns ein guter Spiegel vielleicht neue Möglichkeiten und Perspektiven. Vielleicht erkennen wir eine Reife und Erfahrungstiefe in unserem Spiegelbild, die tatsächlich in einer anderen Rolle oder einem anderen Kontext besonders wertvoll ist. Für diese Erkenntnisse müssen wir neue Fragen stellen und möglicherweise auch unsere Spiegel austauschen damit andere Wahrheiten sichtbar werden. Gute Freunde, ein Coach oder wohlgesonnene Kolleginnen können diese Rolle übernehmen.
Ein stabiler Selbstwert und eine neue Bühne
Dafür lohnt es sich, das eigene Leben sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext multidimensional zu gestalten. Anstatt wie die Königin an einem einzigen Statuselement mit allen Mitteln zu kleben und damit ihren eigenen Untergang heraufzubeschwören, können wir uns eine stabilere Basis in unserem Umfeld aufbauen. Vielleicht müssen wir gelegentlich einen Schritt zurücktreten und jemand anderem die Bühne überlassen, die einmal uns gehört hat. Aber wir können es in dem Wissen tun, dass neue und andere Möglichkeiten entstehen können, von denen wir noch nichts ahnen.