Mit anderen Augen sehen: Wie der Anfängergeist Ihren Spielraum erweitert

„Der Anfängergeist hat viele Möglichkeiten, der des Experten nur wenige.”
Shunryu Suzuki

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3. September 2019

Führung & Philosophie

3 min.

Der Begriff des Anfängergeists stammt aus der Philosophie des Zen und fand durch die Vorträge und Schriften des japanischen Zen-Meisters Shunryu Suzuki Verbreitung im Westen. Gemeint ist eine Haltung der geistigen Offenheit, also den Dingen und dem Leben so gegenüberzutreten, als sei man ein Anfänger und wüsste daher noch nichts. Etwas neu anzufangen heißt, sich dem Nicht-Wissen und der damit verbundenen Unsicherheit zu stellen, sich Fragen und Fehler zu erlauben. Es bedeutet, sich von der eigenen vermeintlichen Wichtigkeit und vorgefertigten Konzepten zu lösen um die Dinge unvoreingenommen wahrzunehmen. Bisher nicht gesehene Informationen und Potenziale werden dann für uns sichtbar und eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten. Der Anfängergeist ist ein wesentlicher Pfeiler der Meditationspraxis im Zen. Die Grundidee geht in ihrer Wirkung jedoch weit über eine meditative Achtsamkeitsübung hinaus. Welche Relevanz hat der Anfängergeist im unternehmerischen Alltag?

Denkroutinen und Expertise

Unser Geist und unser Denken sind geprägt durch individuelle und kulturelle Annahmen, Erfahrungen und Wissen. Sobald wir etwas wahrnehmen, beginnen wir aus Gewohnheit damit, es in die uns bekannten Kategorien einzuordnen und zu bewerten. Dadurch erlangen wir möglicherweise vermeintlich mehr Sicherheit. Aber wir vergeben uns die Chance, etwas Neues zu lernen – und manchmal entgehen uns dadurch wesentliche Informationen. Einerseits brauchen wir natürlich Expertise und Erfahrung um bestimmte Problemstellungen schnell einzuschätzen und effektive Lösungen herbeizuführen. Wie soll produktives Arbeiten möglich sein, wenn wir uns nicht auf unser Wissen aus der Vergangenheit verlassen dürfen? Andererseits kann uns genau dieses Wissen daran hindern, Dinge neu und anders zu denken.

Nichtwissen als Ressource

Im Beruf leben wir mit der Annahme, dass Wissen und Erfahrung unser Kapital und unser Schutzschild ist. Wir wenden unendlich viel Energie dafür auf, anderen zu beweisen, dass wir mehr wissen als sie, dass wir als Experten die Lösung für Probleme haben. Die Angst, dass aus Wissenslücken Fallstricke und Blamagen werden, sorgt zum Beispiel dafür, dass Besprechungen unproduktiv in die Länge gezogen werden, weil echtes oder vermeintliches Nichtwissen durch ausuferndes Reden kaschiert wird. Im Mindset des Experten und in Expertenkulturen ist Nichtwissen ein unverzeihlicher Fehler, der manchmal tatsächlich schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht.

Daher mag die Idee des Anfängergeists zunächst mehr als ungewohnt erscheinen – tauglich für spirituelle Sucher, aber gefährlich im praktischen Alltag. Jedoch ermöglicht er uns, Situationen neu zu erfassen und zu ganz anderen Schlüssen als bisher zu kommen. Was wäre, wenn wir nicht ständig aus unserer gedanklichen Routine oder aus dem Druck des Wissenmüssens heraus reagieren sondern gelegentlich mit dem Staunen des Anfängers einfache Fragen stellen? Wenn wir das bewusste Nichtwissen des Anfangs als Lernchance begreifen?

Als Anfänger offen für neue Informationen

Tagtäglich begegnen wir Menschen in unserem Arbeitsumfeld, von denen wir uns anhand von Erfahrungen oder Äußerlichkeiten ein Bild gemacht haben. Aber ist dieses Bild wirklich wahr? Welche Chancen haben andere, sich zu verändern, wenn wir in ihnen immer dasselbe sehen? Gehen wir jedoch mit dem Anfängergeist in die Begegnung, können sich neue Potenziale eröffnen. Vielleicht fällt uns etwas am Gegenüber auf, was wir bisher noch nie bemerkt haben. Oder wir hören einen Satz, den wir früher unter „Standard” abgespeichert hätten, und fragen stattdessen nach, was damit gemeint ist. Das Gespräch könnte dadurch eine neue Wendung nehmen und unerwartete Ergebnisse liefern. Gleiches gilt für langanhaltende Schwierigkeiten und Probleme, an denen sich Experten bereits die Zähne ausgebissen haben. Eine einfache Frage aus der Haltung des Anfängergeists kann den Weg zur Lösung freilegen, der bisher übersehen wurde. Denn je mehr wir davon ausgehen, dass wir nichts wissen, desto offener sind wir für alle Informationen, d.h. wir  selektieren weniger und nehmen mehr von dem wahr, was da ist. Oft genug sind es gerade die offensichtlichsten Dinge, die unserem geschulten Expertengeist entgehen.

Übung macht den Meister

Der Anfängergeist ist eine wunderbare Begrifflichkeit, um uns mit einem Wort daran zu erinnern, unseren Geist zu öffnen und Denkgewohnheiten hinter sich zu lassen. Je mehr wir uns in der Haltung des Anfängers üben, desto leichter gelingt es uns, situativ “umzuschalten” und mit anderen Augen zu sehen. In Unternehmen und Teams kann der Anfängergeist gemeinsam im Dialog geübt und praktiziert werden. Eine ehrliche Dialogkultur lebt davon, dass wir regelmäßig mit der Annahme des Nichtwissens und einer kindlichen Neugier in unsere Gespräche gehen. Mit dieser Einstellung können wir langanhaltende Schwierigkeiten anders sehen und echte Probleme lösen. Mehr noch: wir können wirklich etwas Neues lernen und unseren Horizont dauerhaft erweitern. Dies ist eine wesentliche Grundlage für Kreativität und Wandel – auch für Experten.

Literatur:
Shunryu Suzuki: Zen-Geist Anfänger-Geist. Unterweisungen in Zen-Meditation. Theseus Verlag, 1975 (erste Auflage)

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