Reden ist Silber – Schweigen ist Gold, so lautet das altbekannte Sprichwort. Wie viele Sprichwörter treffen sie manchmal zu, und manchmal auch nicht. In Organisationen kann Schweigen zu Unzeiten zu schweren Fehlern und gar größeren Verhängnissen führen. Wenn zum Beispiel ein Copilot es nicht wagt, den Piloten auf ein mögliches Missverständnis mit dem Tower hinzuweisen und deswegen ein Flugzeugunglück passiert; wenn eine Pflegekraft die Chefärztin nicht auf eine Unregelmäßigkeit im medizinischen Versorgungsprozess aufmerksam macht und als Konsequenz ein Mensch zu früh stirbt; wenn Mitarbeiter ihre Vorgesetzten nicht darüber informieren, dass gesetzte Ziele nur durch halblegale Methoden erreichbar sind und dadurch eine Ethik des Vertuschens gelebt wird – dann haben wir es mit einer Kultur des Schweigens zu tun, die Reden durch Missachtung, Abwertung oder gar Ausgrenzung bestraft.
Das Gegenmittel lautet psychologische Sicherheit: „ein Glaubenssatz, dass man für die Äußerung von Ideen, Fragen, Sorgen oder Fehlern nicht bestraft oder gedemütigt wird und dass es im Team sicher ist, interpersonelle Risiken einzugehen.“. Diesen Begriff mit seiner Definition hat Amy Edmondson geprägt um die Idee eines offenen Klimas in Gruppen zu kennzeichnen, wo Wortmeldungen auf allen Ebenen grundsätzlich willkommen sind; wo sich MitarbeiterInnen und KollegInnen sicher genug fühlen, ihre Fragen und Beobachtungen mitzuteilen anstatt diese aus Sorge um negative Konsequenzen für sich zu behalten.
Von Fehlermeldungen zur psychologischen Sicherheit
Edmondson kam diesem Faktor im Rahmen einer großangelegten Studie in Krankenhäusern auf die Spur. Ihre Aufgabe war es, die Auswirkungen der Effektivität in der Zusammenarbeit von Teams auf Fehlerhäufigkeit zu untersuchen. Als sie die Daten über Fehlermeldungen und aus ihren Fragebögen zur Teamkultur analysierte, machte sie eine interessante Entdeckung: entgegen ihrer Erwartung gab es in den effektivsten Teams mehr Fehler. Wie konnte das sein? Wie sollte eine gute Zusammenarbeit im Team zu mehr Fehlern führen?
Eine neue These entstand, die später in vielfachen Studien bestätigt wurde: dass in Teams mit einer offenen Kultur mehr Fehler gemeldet werden, weil mehr darüber gesprochen wird. Teams mit einer Kultur des Schweigens, mit weniger Austausch und stärkerer Abgrenzung der Hierarchien sprechen auch nicht über mögliche Fehler, also werden weniger davon als solche erkannt. Die Anzahl der gemeldeten Fehler deutet somit auf eine effektive Kommunikation innerhalb des Teams hin. Teammitglieder haben keine Scheu, ihre eigenen Fehler sichtbar zu machen oder Fehler anderer zu thematisieren, weil beispielsweise der gemeinsame Wunsch, den Patienten die bestmöglichste und sicherste Behandlung zuteil werden zu lassen, im Vordergrund der Arbeit steht. Um dieses Ziel zu verwirklichen ist es erforderlich, Abweichungen frühzeitig zu erkennen und darauf hinzuweisen ohne Angst vor negativen Konsequenzen, mit anderen Worten: psychologische Sicherheit herzustellen.
Kein Kuschelkurs
Eine Kultur der psychologischen Sicherheit hat also nichts mit einem Kuschelkurs zu tun; im Gegenteil, es bedeutet, sich Gegenargumenten und möglicherweise unerwünschten Problemen auszusetzen. Dies kann vor allem für Führungskräfte eine echte Herausforderung darstellen. Wir müssen nicht weit suchen um Fehlentscheidungen darauf zurückzuführen, dass Führungskräften nur das gesagt wird, was sie hören wollen. Es ist relativ leicht, durch Abwertung oder Missachtung abweichender Meinungen eine Kultur des Schweigens und des Vertuschens zu erzeugen. Eine Kultur der psychologischen Sicherheit braucht hingegen konstante Aufmerksamkeit und Praxis. Sie beginnt mit einer inneren Haltung der Demut und des Nichtwissens, gefolgt von der Fähigkeit des Zuhörens aus echtem Interesse an dem anderen und seiner Botschaft heraus.
Wenn ich davon ausgehe, insbesondere als Führungskraft, dass ich nicht alles weiß und auch nicht wissen kann; dass ich sogar darauf angewiesen bin, dass andere mir offen und ehrlich die verfügbaren Informationen mitteilen, damit ich bessere Entscheidungen treffen und damit auch bessere Ergebnisse erzielen kann; dass andere aus unterschiedlichen Bereichen einer Organisation relevante Perspektiven einbringen können; dann ist die Wichtigkeit eines Klimas der psychologischen Sicherheit eindeutig und die Arbeit daran nur eine logische Konsequenz.
Psychologische Sicherheit hegen und pflegen
Dieses Klima lässt sich offensichtlich nicht auf Knopfdruck herstellen. Psychologische Sicherheit muss über längere Zeit aufgebaut und als wertvolles Gut gepflegt werden; ähnlich wie Vertrauen, kann psychologische Sicherheit auch schnell verspielt werden. Sie ist ein Prozess, wie Edmondson betont, an dem kontinuierlich gearbeitet werden muss. Dazu gehören zum Beispiel feste Strukturen oder Gesprächsformate, in denen die Möglichkeiten eines offenen Austauschs gegeben sind und laufend praktiziert werden. Dabei spielen Führungskräfte eine entscheidende Rolle: indem sie zum Beispiel den Mut einzelner Teammitglieder honorieren, einen Fehler anzusprechen oder eine kritische Frage zu stellen; oder indem sie selbst zu ihren Fehlern stehen und mit offenen, wohlüberlegten Fragen in Meetings agieren.
Psychologische Sicherheit zahlt sich nicht nur in der Vermeidung von Fehlern aus, sondern auch in der Entwicklung und Innovation von ganz neuen Ideen wie beispielsweise bei Entscheidungen zur Einführung neuer Produkte oder der Erschließung neuer Märkte. (Edmondson hat dazu in ihrem Buch zahlreiche Fallbeispiele recherchiert.) Rechtzeitig frühe Warnsignale zu thematisieren kann über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Edmondson und viele andere Studien einen direkten Zusammenhang zwischen Leistung und psychologischer Sicherheit feststellen konnten: Teams liefern bessere Ergebnisse, wenn sie sich miteinander sicher genug fühlen um ihre Ideen und Gedanken zu verbalisieren, auch wenn diese kritisch oder abweichend sind.
In Strukturen und Prozessen verankern
Neben der inneren Haltung ist der Fokus auf einen gemeinsamen Grundauftrag oder eine Vision wichtig. Wenn alle im Team ein gemeinsames Ziel teilen, steigt die Motivation dieses erreichen zu wollen, u.a. indem aus Fehlern gelernt wird oder neue Ideen entwickelt werden. Und schließlich helfen gute Gesprächsformate, wie der Dialog nach David Bohm für die Ideenentwicklung und zum Aufbau einer Kultur des Zuhörens. Die Entwicklung von dialogischen Kompetenzen im Team sorgt für einen stabilen Unterbau der Kommunikation und der psychologischen Sicherheit, denn es wird möglich diese direkt zu thematisieren.
Psychologische Sicherheit ist nicht immer leicht oder angenehm. Sie erfordert ein hohes Maß an De-Mut, Respekt und innerem Standing auf allen Seiten. Aber sie führt dazu, dass Menschen sich in ihren Fähigkeiten und Perspektiven ernst genommen fühlen und dadurch mehr Eigenverantwortung übernehmen. Und letzteres ist etwas, was sich nach meiner Erfahrung sehr viele Führungskräfte wünschen.
Literatur: Amy Edmondson, Die angstfreie Organisation. Vahlen, 2020.
Foto: Ernie A. Stephens auf Unsplash