Drei Brüder und ein Haus

Wie man Konkurrenzkämpfe durch Kultur entschärft

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14. Dezember 2020

Märchenhafter Erfolg

5 min.

Es war ein Mann, der hatte drei Söhne und weiter nichts im Vermögen als das Haus, worin er wohnte. Nun hätte jeder gerne nach seinem Tode das Haus gehabt, dem Vater war aber einer so lieb als der andere, da wußte er nicht, wie ers anfangen sollte, daß er keinem zu nahe tät; verkaufen wollte er das Haus auch nicht, weils von seinen Voreltern war, sonst hätte er das Geld unter sie geteilt. Da fiel ihm endlich ein Rat ein, und er sprach zu seinen Söhnen »geht in die Welt und versucht euch, und lerne jeder sein Handwerk, wenn ihr dann wiederkommt, wer das beste Meisterstück macht, der soll das Haus haben.

Die Brüder folgen dem Rat: der eine wird Barbier, der zweite Hufschmied und der dritte Fechtmeister. Der Barbier rasiert lauter vornehme Herren und der Hufmeister beschlägt die Pferde des Königs – und beide denken sich zum Ende der Ausbildung, das Haus wäre schon ihrs. Über den Dritten wird berichtet: Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biß aber die Zähne zusammen und ließ sichs nicht verdrießen, denn er dachte bei sich ‚fürchtest du dich vor einem Hieb, so kriegst du das Haus nimmermehr.‘ 

Nach der vereinbarten Zeit treffen sie sich wieder bei ihrem Vater vor dem Haus, sitzen beisammen und ratschlagen, wie sie ihre Kunst vorzeigen können. Das Schicksal bietet ihnen die passenden Gelegenheiten: der Barbier rasiert kunstvoll einen vorbeispringenden Hasen im Lauf, der Hufschmied beschlägt ein galoppierendes Pferd im Gespann einer Kutsche, und der Fechtmeister hält durch rasend schnelles Schwingen des Degens über seinem Kopf einen Sturzregen ab und bleibt selbst trocken. Der Vater ist von jedem Meisterstück zutiefst beeindruckt; wie es sich im Märchen gehört, sagt er schließlich dem letzten das Haus zu.

Und jetzt kommt das erstaunliche Ende:

Die beiden andern Brüder waren damit zufrieden, wie sie vorher gelobt hatten, und weil sie sich einander so lieb hatten, blieben sie alle drei zusammen im Haus und trieben ihr Handwerk; und da sie so gut ausgelernt hatten und so geschickt waren, verdienten sie viel Geld. So lebten sie vergnügt bis in ihr Alter zusammen, und als der eine krank ward und starb, grämten sich die zwei andern so sehr darüber, daß sie auch krank wurden und bald starben. Da wurden sie, weil sie so geschickt gewesen waren und sich so lieb gehabt hatten, alle drei zusammen in ein Grab gelegt.

 

Die Frage der Nachfolge

Die Besonderheit dieses Märchens ist die einvernehmliche Auflösung einer Situation, die alle Elemente für einen heftigen Konkurrenzkampf enthält. Solche Situationen kennen wir insbesondere wenn es um die Nachfolge in einem Familienunternehmen oder um die Beförderung auf einen Chefsessel geht. Sie entstehen immer dann, wenn es vermeintlich nur einen Gewinner geben kann und die anderen als Verlierer dastehen.

Wie kommt es, dass dieser Kampf hier nicht bis zum bitteren Ende ausgetragen wird? Welche Aspekte der Geschichte führen zu einem glücklichen Ende für alle Beteiligten? Und was können wir daraus für uns an Erkenntnissen mitnehmen?

 

Eine offene Aufgabe

Zu Beginn schickt der Vater die Anwärter auf sein Haus hinaus in die Welt. Jeder soll ein Handwerk lernen, und davon gibt es bekanntlich viele.  Die Aufgabe ist so weit gefasst, dass jeder sie auf seine individuelle Weise erfüllen kann. Anstatt alle drei Brüder in derselben Disziplin quasi um die Wette rennen zu lassen und an demselben Kriterium zu messen, kann jeder sich auf ein eigenes Spezialgebiet konzentrieren und eine erkennbare und unvergleichliche Exzellenz entwickeln.

Gleichzeitig sind die Brüder gefordert, sich unabhängig von den anderen zu beweisen und eigenständig zu werden, denn der erste Teil der Aufforderung lautet: geht in die Welt und versucht euch. Den Gewinn kann nur haben, wer sich außerhalb des Hauses bewährt und sich damit gewissermaßen emanzipiert hat. Die Auslobung des Preises dient also in erster Linie als Ansporn zur Entwicklung.

 

Gemeinsame Werte und Traditionen

Als die drei Brüder nach Hause zurückkehren, entsteht eine bemerkenswerte Situation: sie wußten aber nicht, wie sie die beste Gelegenheit finden sollten, ihre Kunst zu zeigen, saßen beisammen und ratschlagten. Mit anderen Worten, die Brüder überlegen gemeinsam, wie jeder einzelne sein Können vorführen kann. In diesem Satz liegt der Wesenskern des Märchens. Sie sind als Einzelkämpfer ausgezogen, mussten sich unabhängig voneinander zurechtfinden und beweisen. Nun sind sie wieder in der Gemeinschaft, verbunden durch die Familientradition und die Liebe des Vaters, und agieren gemeinsam anstatt sich auf einen Streit um die Rangordnung einzulassen.

Auch in Unternehmen ist leicht erkennbar, ob eine gemeinsame Tradition oder gemeinsame Werte eine tragfähige Verbindung der Menschen untereinander schaffen. Gibt es einen ideellen, immateriellen Wert, dem sich alle verbunden fühlen? Gibt es eine Kultur, die es ermöglicht mit potenziellen Konkurrenzsituationen konstruktiv umzugehen und zum Beispiel die Aufteilung oder den Ausverkauf eines Unternehmens bei einem Führungswechsel zu verhindern? Um nichts anderes geht es dem Vater im Märchen, der das Haus seiner Voreltern in guten Händen wissen will.

 

Meisterschaft beweisen

Die Vorführung ihrer Künste findet schließlich mit Hilfe des Schicksals fast spielerisch statt: jedem Bruder bietet sich spontan eine passende Situation, um das Ausmaß seines Könnens zu demonstrieren: ein vorbeilaufender Hase, ein galoppierendes Pferd im Gespann einer Kutsche und ein heftiger Regenschauer. Jedes einzelne Meisterstück zeigt eine überaus kreative und hochgradig kompetente Anwendung des erlernten Handwerks unter herausfordernden Umständen. 

 

Der Vater krönt letztlich den Fechtmeister zum Erben des Hauses, und das Märchen gibt uns auch Hinweise darauf, warum dieser die Auszeichnung verdient. Er zeigt nämlich schon in seiner Ausbildung Haltung: Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biß aber die Zähne zusammen und ließ sichs nicht verdrießen. Anstatt sich nur mit den vornehmen Herren und Königen zu beschäftigen, geht er ins Gefecht und steckt Schläge ein in dem Bewusstsein, dass dies wichtige Lernerfahrungen sind: er dachte bei sich ‚fürchtest du dich vor einem Hieb, so kriegst du das Haus nimmermehr.‘ 

Das kennen wir sicherlich gut: wer ein Ziel ernsthaft erreichen will, muss manches einstecken können und darf sich vor Rückschlägen weder fürchten noch aus der Bahn werfen lassen. Das gilt umso mehr, wenn man sich mit anderen messen muss um den Preis zu erhalten. 

Zweitens zeigt das Meisterstück des Fechtmeisters die Fähigkeit, sich selbst zu schützen. Während der Barbier ein spielerisches Kunstwerk mit dem Hasen vollbringt, der Hufschmied einer Kutsche durch die Beschlagung des Pferdes im Flug zu einer schnelleren Reise verhilft, gelingt es dem Fechtmeister mit seinem Degen selbst im Trockenen zu bleiben. Er ist in der Lage, nachhaltig für Schutz zu sorgen. Für die Bewahrung und den Erhalt des Erbes ist diese Fähigkeit entscheidend.

 

Reichtum und Erfolg

Die Brüder akzeptieren das Urteil des Vaters, wie sie vorher gelobt hatten, sie sind ehrlich und halten Wort. Da ist sie wieder, die gemeinsame Kultur der Wertschätzung, die ihren krönenden Ausdruck darin findet, dass die Brüder das Haus gemeinsam bewohnen und durch ihre Handwerkskunst zu Erfolg und Reichtum kommen. 

Das liest sich wie ein Prototyp der geteilten Führung und zeigt uns, wie zum Beispiel Unternehmensführung im Team funktionieren kann. Wenn jeder zunächst sein eigenes Handwerk in der Fremde erlernt, sich also unabhängig von den anderen in einem Spezialgebiet beweist und eigenständig wird, ist es möglich, eine Position gemeinsam auszufüllen. Dann kann ein starkes Führungsteam entstehen, in dem jeder für sich Verantwortung übernimmt und einen eigenen Ruf etabliert. Gleichzeitig sind Wertschätzung untereinander und eine gemeinsame Kultur unabdingbar für den Erfolg.

Eigentlich könnte die Geschichte hier enden: die Brüder sind nicht nur über sich selbst sondern auch über ihren Vater hinausgewachsen. Aber das Märchen setzt noch eins obendrauf, denn der Tod des einen lässt die anderen beiden bald darauf vor Gram sterben. So bleiben sie auch jenseits des Todes zusammen. Da wurden sie, weil sie so geschickt gewesen waren und sich so lieb gehabt hatten, alle drei zusammen in ein Grab gelegt. 

Eine Moral des Märchen könnte somit lauten: Exzellenz mit Herz führt zu nachhaltigem Ruhm und Erfolg. Wenn das kein gutes Rezept ist!

Aber was ist mit der Nachfolge der Brüder, dem Haus und dem ganzen Vermögen? Das ist eine andere Geschichte… und vielleicht nicht wesentlich.

Quelle: Grimms Märchen. Den vollständigen Text des Märchens finden Sie hier.
Fotos: Ella de Kross und Mohit Tomar auf unsplash

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