Die Macht der kleinen Schritte

Wie minimale Abweichungen Großes bewirken können

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11. März 2020

Führung & Philosophie

4 min.

Ein Schiff auf hoher See folgt mangels anderer Orientierungspunkte einem bestimmten Kurs um ans Ziel zu gelangen. Laufend wird der Kurs justiert und, je nach Wetterlage und Seegang ausgerichtet. Denn selbst eine minimale Abweichung kann dazu führen, dass das Schiff langfristig ganz woanders ankommt als ursprünglich geplant. Je länger man auf dem neuen Kurs weiterfährt, desto größer wird der Abstand zum ursprünglichen Kurs. Umso aufwändiger wird es, die Abweichung zu korrigieren, und manchmal ist es sogar erforderlich, zum Ausgangspunkt der Abweichung zurückzukehren. Regelmäßige kleine Kurskorrekturen  sorgen dafür, dass das nicht passiert. Diese Korrekturen lassen sich berechnen, weil es sich hier um ein lineares Phänomen handelt. Das Ergebnis ist vorhersagbar – solange nicht unberechenbare Umstände wie Wetter oder Turbulenzen dazwischenkommen.

Letztere sind lebendige und nicht-lineare Phänomene, die im Rahmen der mathematischen Chaostheorie erforscht wurden. Auch hier können kleine Schritte Großes bewirken; allerdings unvorhersehbar und unter Umständen völlig überraschend.  Im Gegensatz zur Berechnung eines Navigationskurses lässt sich in nicht-linearen dynamischen Systemen nicht kalkulieren, wie sich selbst minimale Änderungen der Anfangsbedingungen langfristig auf die Entwicklung des Systems auswirken. Der US-amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz, der als Vater der Chaostheorie gilt, prägte in einem Vortrag über  diese Sensitivität von Systemen gegenüber den Ausgangsbedingungen den Begriff des Schmetterlingseffekts. Seinen Berechnungen zufolge ist es möglich, dass der sanfte Flügelschlag eines Schmetterlings in einem Erdteil kleinste atmosphärische Veränderungen bewirkt, die in einem anderen Erdteil einen Tornado auslösen können.

Kleine Schritte – große Wirkung

Dies sind Beispiele dafür, welche Wirkung kleine und unspektakuläre Schritte entfalten können. In einem Fall können wir wissen, wie sich eine Korrektur auswirkt; im anderen Fall ist es völlig offen, ob eine minimale Abweichung überhaupt etwas bewirkt oder uns mit dem Ausmaß ihres Ergebnisses überrascht. Mehr noch: oft genug lässt sich die Wirkung kaum noch auf die Ursache zurückverfolgen.

Was bedeutet das für uns und für unser Leben in komplexen Systemen wie Unternehmen es sind? Könnte der Verlust eines Bleistifts durch die Irrungen und Wirrungen einer Organisation zu einer Unternehmenskrise führen? Oder ein freundliches Wort zur rechten Zeit zu einer sprunghaften Umsatzsteigerung? Es liegt in der Natur von komplexen Systemen, dass das lineare Prinzip von Ursache und Wirkung als Erklärungs- und Handlungsmuster nur bedingt taugt. Unternehmen sind keine Maschinen oder Uhrwerke, sondern werden durch den menschlichen Faktor geprägt. Daher lässt sich die Wirkung unseres Handelns auch nur bedingt vorhersagen. Wie bei der Navigation in der Schifffahrt ist es erforderlich, lineare und zielorientierte Prozesse innerhalb von komplexen, nicht-linearen und dynamischen Systemen zu steuern.

Toleranz der Unsicherheit

Wir müssen uns also mit einem gewissen Maß an Nicht-Wissen und Unsicherheit auseinandersetzen. Denn egal wie viele Daten wir über einen Sachverhalt erfasst und analysiert haben, einem Ergebnis können wir uns höchstens annähern, so wie bei der Wettervorhersage.

Aus diesem Grund ist das agile Prinzip der kurzfristigen Sprints in komplexen Systemen sehr praktisch. Kleine, machbare Schritte werden über einen kurzen Zeitraum vereinbart und dann evaluiert, bevor die nächsten Schritte definiert werden – anstatt über einen langen Zeitraum einen festen Plan abzuarbeiten. So können laufend Korrekturen und Anpassungen vorgenommen werden, und das Ziel kann sich mit dem Prozess entwickeln und entfalten.  

Zielentwicklung und Kurskorrekturen

Wenn wir ein klares Ziel vor Augen haben, können wir also durch kleine Kurskorrekturen viel bewirken. Sie sorgen dafür, dass wir das angestrebte Ziel tatsächlich erreichen, auch wenn es zwischendurch zu Turbulenzen und Wetterumschwüngen kommt. 

Es lohnt sich daher, die Wahrnehmung für die kleinen Veränderungen zu schärfen, die einen vom Kurs abbringen können und wo eine Korrektur noch leicht möglich ist. Wartet man zu lange, erfordert die Rückkehr zur zielführenden Bahn Umwege oder gar Rückschritte, bevor man wieder Fahrt aufnehmen kann. 

Im positiven Sinne kann eine kleine Abweichung dazu führen, dass ein scheinbar vorgezeichneter Pfad sich ganz anders entwickelt als gedacht – was manchmal sogar zu besseren Ergebnissen führt. Dies gilt zum Beispiel, wenn man einen einmal eigeschlagenen Weg verlassen möchte. Ein kleiner Schritt in eine andere Richtung, die dann konsequent weiter verfolgt wird, kann den gewünschten Effekt über die Zeit herbeiführen. 

Das Big Picture

In komplexen Situationen, die allen tiefgreifenden Transformationen zu eigen sind, bewährt es sich hingegen, ein Ziel nicht in allen Details vorzudefinieren, sondern es sich als Teil des Prozesses entwickeln und entfalten zu lassen.

Um hier die Orientierung zu behalten ist es wesentlich, regelmäßig den Blick aus der Vogelperspektive einzunehmen und die jeweiligen Schritte ins Verhältnis zum Big Picture zu setzen. Wie hat uns ein Schritt weitergebracht? Welche erwarteten und unerwarteten Konsequenzen sind eingetreten? Welche veränderten Rahmenbedingungen müssen wir für die weiteren Schritte berücksichtigen? Was ist als nächstes realistisch machbar? Was wollen wir als nächstes ausprobieren, und bis wann? 

Orientierung durch Achtsamkeit

Mit der entsprechenden Achtsamkeit lassen sich über solche Reflexionsschleifen auch in komplexen Systemen grundsätzliche und nachhaltige Veränderungen bewirken. Eine unvoreingenommene Haltung auf der Grundlage des Anfängergeistes schärft dabei die Wahrnehmung für die kleinen Dinge, die wie ein Schmetterlingseffekt potenzielle Wirkkraft haben. Auch Dialoge nach David Bohm sind wertvolle Hilfsmittel bei der Navigation von Transformationsprozessen, weil in diesen Runden mögliche Abweichungen untereinander sichtbar und im Gesamtzusammenhang wieder neu synchronisiert werden können. 

Ganz nebenbei stärken diese Kurzmeetings den Teamgeist und die gemeinsame Ausrichtung, so dass der Weg in seinen kleinen Schritten schon ein wesentlicher Teil des Ziels wird. Denn wir beginnen zu verstehen, dass unser alltägliches Handeln Konsequenzen hat und werden achtsamer im Umgang miteinander.

Und vielleicht stellen wir dabei fest, dass es doch nicht so ganz egal ist, ob in China ein Sack Reis umfällt!

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Swaan Barrett begleitet Sie in den großen und kleinen Schritten von Transformationen.

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